„Ich verstehe mich selbst nicht – immer wieder laufe ich in dieselbe Falle.“ – Ein Satz, der ganz im Gegensatz zu unserem Selbstbild im 21. Jahrhundert der selbstbestimmten und freien Lebensentscheidungen steht. Für Sven Rode kann solch ein Lebensgefühl Ausdruck einer transgenerationalen Übertragung sein. In seinem Buch „Gefühlserben“ zeigt er anschaulich auf, wie die Schrecken des zweiten Weltkrieges auch fast 80 Jahre nach seinem Ende immer noch in heutiges Leben hineinwirken. Er näherte sich dem Thema des Kriegserbe dabei aus unterschiedlichen Perspektiven:
- als Journalist mit einer intensiven Recherche und einer sehr gelungenen Zusammenschau der aktuellen wissenschaftlichen Forschung und Veröffentlichungen,
- als Coach und Heilpraktiker für Psychotherapie mit seinen vielfältigen Erfahrungen aus Begleitungen und Workshops mit Kriegskindern und -enkeln,
- und ganz persönlich als Betroffener, als Nachfahre eines Täters.
So legt Rohde den Fokus vermehrt auf die Annäherung, Erkundung und Aufarbeitung der Gefühlserbschaften aus Täterbiographien des 2. Weltkrieges. Weitere Spezifika der Zeit wie Flucht, Vertreibung, Bombardierung… etc. werden aber genauso betrachtet wie aktuelle / weitere kollektive gesellschaftliche Traumata
In 5 gut gegliederten Kapiteln führt der Autor den Leser durch die Thematik, am Ende gibt es jeweils Einladungen zur Reflexion mit Fragen und Übungen.
Er zeigt auf wie das Gefühlserbe unbewusst im Alltag, in der Psyche, im Körper, in Beziehungen und im Lebensweg wirken kann. Einen besonderen Fokus legt er auf die Abwehrmechanismen in Familien, die dazu dienen, belastende Geheimnisse und Tabus zu hüten, aber auch gesellschaftliche Aktualität wird angesprochen: „Für eine Gesellschaft, die sich der Humanität und der Demokratie verbunden fühlt, wäre die Aufgabe offenkundig: historische Lasten ins Bewusstsein zu holen, individuell, familiär und kollektiv, um nicht aus den abgespaltenen Gefühlen der Vergangenheit heraus an den Herausforderungen der Gegenwart zu scheitern“ (S. 136). Wer sich aufmacht, sein Gefühlserbe zu erkunden, für den gibt es Struktur bei der Recherche, Hinweise für Widerstände im Innern sowie in der Familie und hilfreiche Aspekte der Klärung zwischen Autonomie und Loyalitäten. Es ist ein Pendeln in vielfacher Hinsicht: „So pendeln ihre Emotionen zwischen der Wut auf die Vorfahren und dem Mitgefühl mit ihnen hin und her. Integriert werden kann das Thema aber erst, wenn beides da sein kann, die Wut und das Mitgefühl“ (S. 168). Wie Heilung gelingen kann, dafür gibt es ein ganzes Mosaik an Ansatzpunkten. Drei Faktoren stellt Rohde dabei besonders heraus: Der Wunsch nach Heilung, der „Wille zum Wohlbefinden“, der Austausch mit weiteren Betroffenen in Gesprächskreisen /Workshops und wenn nötig die professionelle Begleitung.
Das 6. Kapitel spricht überwiegend professionelle Kolleg:innen an und sensibilisiert für die Wirkmechanismen transgenerationalen Erbes in der Interaktion von Beratern, Coaches, Therapeuten mit ihren Kund:innen
Das Buch ist für Laien verständlich geschrieben und eignet sich mit den Reflexionsangeboten sehr gut für eine erste Selbsterforschung. Und auch für Professionelle ist es ein lesenswerter Einblick in das Feld der Gefühlserben / transgenerationalen Weitergabe, den ich sehr empfehlen kann.