Carl-Auer Verlag, 2022, 359 S., 49,00 EUR
In der Arbeit mit Klient*innen stoßen wir immer wieder auf therapieresistente Krankheiten, Symptome oder Alltagsprobleme, denen auch nach eingehender Prüfung keine physiologischen oder lebensgeschichtlich-psychische Ursachen zu Grunde liegen. Die Ärztin Birgit Hickey hat mit über 20-jähriger Erfahrung für diese Thematiken einen systemisch-familienbiographischen Ansatz entwickelt. Dieser geht davon aus, dass „körperliche und psychische Symptome sowie andere Problem nicht nur in Verbindung zu Ereignissen in der individuellen Vorgeschichte, der eigenen Biografie stehen, sondern auch ausgelöst und unterhalten werden durch (meist unbewusste) Bindungen zu unbewältigten Schicksalen und ‚ungelebtem‘ Leben von früheren Mitgliedern des Familiensystems“ (S. 14).
Aus einer systemisch-konstruktivistischen Haltung heraus werden mit Hilfe der familienbiografischen Genogramm-Analyse Hypothesen zur Entstehung von solchen Stellvertretungsaufgaben entwickelt, die in unterschiedlichen Aufstellungsformaten überprüft und in weiteren Schritten in Lösungsimpulse transformiert werden können.
Aus den langjährigen Beobachtungen hat Hickey dabei eine Stellvertreterordnung entwickelt, die sie anhand von zahlreichen Genogramm-Darstellungen gut nachvollziehbar erläutert und mit vielen Beispielen unterlegt. Dabei orientiert sie sich an den drei familienbiographischen Fragen: Warum hat die betroffene Person gerade jetzt, in diesem Lebensalter, gerade so, gerade hier an diesem Platz in der Geschwisterreihe, im Familiensystem dieses Problem/Symptom? (S. 14).
Der Aufbau des Buches ist kohärent zur angebotenen Praxis: Vorgespräch, Genogramm-Analyse und Aufstellungen, mit anschließender Vertiefung in unterschiedlichen Themenfeldern wie Partnerschaft, Patchwork- bzw. Adoptivfamilien, Krankheitssymptome, Kriegsfolgen und Traumata. Die auch für Laien gut aufbereitete Einführung in die Epigenetik sowie der Ausblick in die Wirkung von Resilienz- und konsequenter Ressourcen-Orientierung runden die Ausführungen ab.
Der Fokus, den Hickey mit ihrem Ansatz verfolgt, Symptome oder hinderliches Verhalten als Hinweis auf Stellevertreteraufgaben und -ordnungen aus dem Mehrgenerationssystem zu sehen, eröffnet daher einen Hypothesenraum, der einen Unterschied macht, der Lösungswege eröffnen kann, die sonst im Verborgenen bleiben.
Auf der anderen Seite ist die Stringenz, mit der die Ordnungen vorgetragen werden, auch wieder einengend, und die Leserin fragt sich, ob die Ergebnisse auch deshalb so überzeugend sind, weil mit einem bestimmten Fokus, der Brille der definierten Ordnungen, auf Familien und ihre mehrgenerationalen Konstellationen gesehen wurde. Mit einer Haltung: „Es könnte alles auch ganz anders sein“ ist das Buch Wie die Familie unser Leben bestimmt – „… bestimmen kann“ eine sehr zu empfehlende Inspiration.